Mind

Allein im Elektroschock-Zimmer

Eine Beobachtung während des ersten Corona-Lockdowns, zum Thema Nichtstun: Es war erstaunlich, dass bereits wenige Tage nach der Außenwelt-Sperre zahlreiche Texte, Kommentare, Newsfeeds in Umlauf waren, die mitten im plötzlichen Nichts merkwürdig hyperaktiv von Dingen berichteten, die nun endlich gemacht werden konnten; von einer Hyperaktivität in die andere, verlagert größtenteils ins Netz. Mir kam eine 2014 veröffentlichte Studie in den Sinn. Das Setting war einfach, mit der Forschungsfrage: Tun Menschen, die zum Nichtstun gezwungen werden, tatsächlich lieber nichts, oder präferieren sie stattdessen einen (schwachen) Elektroschock, den sie SICH SELBST verpassen? Sehr viele Probanden entschieden sich für den Elektroschock, was etwas überraschend war. Bei einer nicht repräsentativen kleinen Erhebung unter Freunden kam ich damals zur selben Präferenz, bzw kam die Entscheidung öfter als erwartet. Und ja, sie kam mit lachendem Gesicht. Aber sie kam. Das sagt vielleicht etwas aus über die menschliche Verfasstheit, über des Menschen Zwang zu „Etwas“. Schon im 17. Jh meinte dazu Blaise Pascal: „Das Unglück der Menschen kommt daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer sitzen können“. Blaise Pascal hatte offensichtlich ein gutes Gespür für Menschen, vielleicht sogar schon für eine zukünftige Conditio Humana, die elektrisch organisiert ist. Denn an diverse Elektroschock-Experimente a la Milgram denkend, kann man sich einerseits fragen, warum der Elektroschock ein so beliebtes Mittel in der wissenschaftlichen Forschung zu sein scheint, andererseits ist auch die Antwort auf die Frage, warum Menschen zum Quälen neigen, vielleicht einfacher und komplizierter zugleich: Weil sich sonst ALLES so verdammt NACH NICHTS ANFÜHLT.

Ich entwickle im Moment eine SF-Exploitation-Geschichte, die mit den frühen Forschungen zur Elektrizität beginnt. Historische Beispiele: Die Rich Kids des frühen 19. Jahrhunderts hatten zum Zwecke des forschenden Amüsements so genannte „Influenzmaschinen“ zur Verfügung. Das sind elektrostatische Generatoren zur Spannungserzeugung – um zB. die Kinderhaare zu Berge stehen zu lassen. Wissenschaft als neue Disziplin betrieb etwa zur selben Zeit, im späten 18. und frühen 19. Jh. die Versuchsanordnungen zu „tierischer Elektrizität“. Damit sind die Experimente mit Fröschen, Schnecken, Hunden, Ochsen etc bezeichnet (Galvanismus). Höhepunkt der Forschung zur elektrischen Lebenskraft stellten die Gräulichkeiten von Galvanis Neffen dar, eines gewissen Giovanni Aldini, der ua. einen menschlichen Toten mittels Elektrizität zum Leben wiedererwecken wollte. Er ließ den hingerichteten Körper eines Mörders besorgen und anschließen. Eine Beschreibung des Versuchs: „[Bei der Leiche wurde] ein heftiger, krampfhafter Atemzug ausgelöst. Die Augen gingen auf, die Lippen bebten …“. Und so weiter. Das war nicht nur Thrill pur, sondern ein offiziell anwesender Chirurgie-Bediensteter soll dermaßen schockiert gewesen sein, dass er kurz darauf zuhause starb. Besonders diese Experimente (und ihre öffentliche Thematisierung durch die Anti-Vivisektionsbewegung Ende des 19. Jahrhunderts) haben der Wissenschaft einen anhaltenden Imageschaden beschert – als Kammer des Schreckens. Die Hinrichtung eines ausgewachsenen Elefanten am öffentlichen „elektrischen Stuhl“ um 1900 tut hier nur mehr ihr symbolisch Übriges: Nach einer Menge Kleingetier im so genannten Stromkrieg Ende des 19. Jhs (im Streit Gleichstrom vs Wechselstrom, im Kampf Edison vs Tesla) war das nur mehr das große Exempel einer Exekution per High Voltage. Diese „Electrocution“ wurde im Rahmen von damals noch üblichen „Tierprozessen“ durchgeführt: Der Zirkuselefant Topsy hatte einen Menschen umgebracht, der ihn zuvor mit einer brennenden Zigarette malträtiert hatte. Die Hinrichtung von Topsy erfolgte dann mit ziemlich viel Strom-Company-Propaganda und Unterhaltungsmaschinerie rundum. In der Liste von Edisons coin-operated Kinetoscopes wurde das gefilmte Event so geführt: „ELECTROCUTING AN ELEPHANT. Topsy, the famous ‚Baby‘ elephant, was electrocuted at Coney Island on January 4, 1903. We secured an excellent picture of the execution. […]“

Dies soll andeuten, dass es neben dem menschlichen Horror vor dem Nichts, sowie dem Bedürfnis zum Amüsement („Influenz-Maschine“) eine kurze, aber dafür intensive Geschichte gibt, die unsichtbar und in mehrerlei Hinsicht auf Elektrizität und Tod aufgebaut ist. Zumindest ist das der Plot der angesprochenen SF-Exploitation, an der ich arbeite: Hier geht es in einer nicht näher definierten Zukunft um schwache Schläge aus der „Entity“, die die Währung „E°mo“ aus den Menschen herauslöst. Die Menschen füttern mit der Währung Zeit und Emotion das Netz, sind aber schon längst vom regulären Rohstoff, von der angezapften Datenressource zum kontrollierten Vollvertriebskörper dieser Ressource geworden. Der Protagonist Nik ist schon zu Romanbeginn Autist, was in einer späteren Gesellschaft normal zu sein scheint („Autisten fühlen nicht zu wenig, sondern zu viel“). Nik entwickelt sich aber nach und nach zu einem „Hyper-Feeler“. Er vermag über so genannte „Gefühls-Sensationen“ die noch so feinen Empfindungen der „Sphärenleiter“ spüren, die als elektromagnetisches Triggersystem quasi die Inter-Applikation des Netzes darstellt. Diese inkludiert Daten seiner menschlichen Wirte, vor allem aber auch die nicht-menschlichen Scripts der Natur, in einem Kapitel auch die der Tiere. Und das, was der „Hyper-Feeler“ in der Entity dann wahrnimmt, riecht einerseits (so ganz generell) immer leicht verbrannt-verbruzzelt und permanent schwach nach Tod, andererseits formuliert Nik aus seinem eigenen Körper, in einer Art Restemotion kollektiver wie einzelmenschlicher Erfahrung, ein fortgesetztes Gegenscript der Schmerzen. Unter dem Titel „Allein im Zimmer: Innenraum 1- ∞“ schickt er Empathie-Schocks ins System. Zuerst, um sich zu wehren. Später merkt er, dass er die Entity dadurch eigentlich am Leben erhält. Denn diese läuft selbst permanent Gefahr, im systemischen Tod der Gleichförmigkeit zusammenzufallen, muss sich selbst mit immer neuen, anderen Daten erweitern, um sich behaupten zu können. So genannte „InfluencerMs“, Sofort-E°mo-Exekutoren, tauchen mit jedem induzierten Gegenscript auf. Aber nach ihrem Auftauchen bleibt auf die unheimlichste Weise stets alles wie zuvor, was am Schluss zum Bewusstseinsrätsel per se wird. Ende des Spoilerns. Nur das sei noch angemerkt: Selbstverständlich finden auch in Zukunft Kriege weiterhin statt und selbstverständlich mahlen unter der Oberfläche die Knochenbrecher des Techno-Kapitalismus weiter.

Und damit zum Lockdown-Exkurs Nummer 2, einer kleinen, wahren Geschichte über die Birke und den Klimawandel. Die Nachricht ging während der Virus-Berichterstattung im März 2020 etwas unter: Die Birke war für AllergikerInnen in diesem Frühjahr besonders schlimm. Es hieß, dass die Birke in ihrem Überlebenskampf besonders viele Pollen ausstoße, denn ihr sei es in unseren Breiten zu warm geworden. Seitdem komme ich (als Allergikerin) nicht umhin zu denken, dass dieser ununterbrochene Daten-Spread, der Content-Blast, aber auch dieses andauernde Senden per SM, Stream und das Whatever an Datengenerierung nichts anderes als ein Überlebenskampf ist – von Menschen, die permanent kleine Elektroimpulse aussenden/empfangen, um am Großversuch des dimensionslosen Daten-Schocks teilzunehmen, und sich darin irgendwie noch selbst zu spüren. In einer Kultur, die an einem Dead End ihren Big-Data-Metabolismus noch verzweifelt irgendwie zu befruchten versucht (inklusive Tree-to-Tree-Communication), während sie eigentlich schon stirbt.

Dieser Text lehnt sich hinaus, in Vergangenheit, Realität, Dystopie usw. Er bietet keine Antworten. An sich Low-Tech-orientiert arbeite ich mit einem Ansatz von Kunst- und Technologie-Koordinaten. Mir geht es um die Feststellung grundsätzlicher Verschiebungen, bzw um ein Überdenken einer herkömmlichen Begrifflichkeit von „Matters“: um „Material“ und um „Dinge von Belang“. Ich bin HIER beim Material und Medium eines aufgelösten elektromagnetischen Gesamtkörpers angelangt, der permanent Gefahr läuft, in sich zu kollabieren. Darin behaupte ich ein ICH, das als eine Art „unreine Form der einzelmenschlichen Erfahrung“, quasi als fühlender Körper immer noch DAS Widerstandspotential schlechthin darstellt. Gleichzeitig stellt dieser Widerstand aber diejenige dunkle Ressource dar, die das gleichförmige System eigentlich noch am Leben erhält. Mit der Gefahr der Auflösung und des Kontextverlustes im Rücken geht es mir darum, diejenigen weit nach außen gesetzten Fluchtpunkte aufzuschlagen, von denen wir alle in Zeiten eines Übergangsopportunismus keine Ahnung haben können. Aber: Es soll während des blinden Navigierens zumindest versucht werden, Mind und Body grundsätzlich anders zu verschalten – um eventuell sogar ganz andere, vielleicht sogar äußerst innere Horizonte anzudeuten. Es ist besser als nichts, Scripts wie diese (https://nik.stwst.at) zu schreiben, denn: Wir wissen, wie leicht sonst Menschen vom Rand dimensionsloser Scheiben herunterfallen.

It’s the content, stupid.

 

Text veröffentlicht in der servus.at-Publikation „A Nourishing Network“, einem hybriden Publikationsformat mit Beiträgen der AMRO/servus.at-Community. Erscheinungstermin 2020/2021. https://a-nourishing-network.radical-openness.org/

Bildüberblendung: beinhaltet einen Frame der 74 Sekunden kurzen Filmdokumentation „Electrocuting an Elephant“. Bildcredit des historischen Materials: Wikimedia Commons, bzw Film produced by Edwin S. Porter or Jacob Blair Smith for the Edison Manufacturing Company, 1903; und ein Bild aus dem eigenen Projekt „Mein Hirn gefriert bei minus 273 Grad“. Bildüberblendung: Tanja Brandmayr. Bildüberblendung Umsetzung: Elisabeth Schedlberger.

Alle Projektfotos aus: Mein Hirn gefriert bei minus 273°, Hochpotenzprojekt im Rahmen von STWST48x6 MORE LESS. Fotos: Sandrik. http://stwst48x6.stwst.at/mein_hirn_gefriert_bei_minus_273

Bilder/Textbild-Elemente aus: Nik, Scripting als Hochpotenz-Wahrnehmung https://nik.stwst.at